Uwe Schneidewind
Die große Resonanz auf die Idee der Bürgerwissenschaft ist auch Ausdruck für den Bedeutungsverlust der Hochschule in der Gesellschaft. Hochschulen scheinen kaum präsent im ringen um viele gesellschaftlich brennende fragen: zum Beispiel bei der suche nach neuen Modellen der Ökonomie oder bei der Entwicklung angepasster Technologien. Doch Hochschule und Bürgerwissenschaft müssen kein Gegensatz sein – im Gegenteil: als Bürgerhochschule kann die Hochschule zum wichtigen Katalysator einer starken Bürgerwissenschaft werden.
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Nie haben so viele Menschen in Deutschland an Hochschulen studiert. Nie ist so viel Geld in den Wissenschafts- und Hochschulsektor geflossen wie in den vergangenen Jahren. Und dennoch löst die Idee der Bürgerwissenschaft eine große Faszination aus: Sie scheint Antworten auf viele in der Gesellschaft gestellte Fragen zu bieten, zu denen die institutionalisierte Wissenschaft oft sprachlos bleibt: Wie sehen Wohlstandsmodelle der Zukunft aus? Sind moderne Gesellschaften auch unter Postwachstumsbedingungen möglich? Was sind erfolgreiche Ansätze einer Sharing-Economy? Wie können die Gefahren moderner Technologien früh erkannt und damit umgegangen werden? Wie lassen sich angepasste Technologien für eine resiliente Energieversorgung und Mobilität gestalten – von der dezentralen Energieversorgung bis zum Open Source-Automobil? Wie sehen zukunftsfähige Partizipationsmodelle aus?
Nischen im klassischen Wissenschaftssystem
Dies sind nur einige Fragen, für die heute nur in Nischen des klassischen Wissenschaftssystems aktiv nach Antworten gesucht wird. Sie werden außerhalb der Wissenschaft oftmals intensiver diskutiert – beispielsweise in studentischen Netzwerken zur Wachstumswende, in der Transition Town-Bewegung, unter engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich auf den Weg zu einer 100 Prozent Erneuerbaren-Kommune machen, oder in den wissenschaftlichen Arbeitskreisen großer Umweltverbände wie dem BUND.
Ende der 70er-Jahre und in den 80er-Jahren existierte schon einmal eine ähnliche Situation: Die etablierte Wissenschaft, Staat und Industrie forcierten Groß- und Risikotechnologien. Der Widerstand der Bürger gegen Atomtechnologie und andere Großrisiken fand kaum Resonanz im institutionalisierten Wissenschaftssystem. Damals gründeten sich Institute wie das Öko-Institut, das Institut für Energie- und Umweltfragen (IFEU) oder das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Sie wurden zum wissenschaftlichen Resonanzboden für eine immer breiter werdende Ökologiebewegung. Auch diese Form der Bürgerwissenschaft entwickelte sich aus Rändern der Hochschulen heraus – ein Beleg dafür, wie eng die Verbindungen zwischen Hochschulen und Bürgerwissenshaft sein können.Starke Bürgerwissenschaft in aufgeklärter Wissensgesellschaft
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich: Wenn hier von „Bürgerwissenschaft“ gesprochen wird, ist damit nicht „Citizen Science light“ sondern „Citizen Science proper“ (Finke 2014) gemeint. Das heißt: Eine „starke“ Bürgerwissenschaft ist das Ziel, in der Bürger sich nicht alleine auf die Rolle von Hilfswissenschaftlern für die etablierte Wissenschaft (als Beobachter, Sammler, Zähler) beschränken, sondern selber aktiv Forschungsfragen aufwerfen und diese aktiv untersuchen. Eine solche starke Bürgerwissenschaft ergänzt das etablierte Wissenschaftssystem und ist ein wichtiger Beitrag für eine aufgeklärte Wissensgesellschaft. Die „reflexive Moderne“ (Giddens/ Beck/Lash) benötigt vielfältige Zentren der Wissensproduktion. Nur so ist gesellschaftliche Gestaltung unter den Bedingungen einer Nebenfolgengesellschaft möglich. Dies ist die Essenz einer „transformativen Wissenschaft“ (Schneidewind/Singer-Brodowski 2014), das heißt einer Wissenschaft, die gesellschaftliche Veränderungsprozesse aktiv mitgestaltet und begleitet.
Dabei zeigt sich, dass sich eine starke Bürgerwissenschaft besonders dann gut entwickeln kann, wenn es enge Verknüpfungen mit Hochschulen gibt. Studierende und Lehrende in Hochschulen sind selber ein Pool von potenziellen Bürgerwissenschaftlern. Hochschulen können vielfältige methodische und instrumentelle Unterstützung für die Bürgerwissenschaft liefern. Sie können Plattform für den Austausch mit der organisierten Zivilgesellschaft sein und neue Formen von Vermittlungsinstitutionen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft auf den Weg bringen. Dies alles hilft nicht nur der Stärkung einer Bürgerwissenschaft, sondern eröffnet auch ganz neue Potenziale für Hochschulen – in Forschung, Lehre und Transfer. Als „Bürgerhochschulen“ (Schneidewind 2013) können Hochschulen verstanden werden, die diese Chancen aktiv erschließen. Einige Hochschulen in Deutschland haben sich hierzu auf den Weg gemacht.
Studierende als Citizen Scientists
Bürgerwissenschaft birgt besonders große Chancen für die Lehre in Hochschulen. Denn letztlich steckt in jedem Studierenden ein potenzieller Citizen Scientist. Viele Studierende kommen an die Hochschule, weil sie konkrete, gesellschaftlich relevante Fragen umtreiben: Wie kann eine gerechte Ökonomie und Gesellschaft aussehen? Wie gelingt die Erhöhung der Bildungs- und Teilhabechancen für Menschen mit Migrationshintergrund? Wie müssen neue Energietechnologien zur Lösung aktueller Umweltfragen gestaltet sein? Viele dieser Fragen liegen quer zu Disziplinen und zur kanonisierten Hochschullehre. Statt Studierende von Anfang an zu „disziplinieren“, lassen sich die Fragestellungen der Studierenden auch zum Ausgangspunkt von Lehre nehmen.
Die schon seit den 70er-Jahren erfolgreich praktizierte Form des „Projektstudiums“ hat gezeigt, wie auf diese Weise forschendes Lernen möglich wird und neue Motivationen entstehen, auch disziplinäre Zugänge und Methoden zu erlernen. Universitäten wie die Leuphana Universität Lüneburg mit ihrer Studieneingangswoche und dem von allen Studierenden zu absolvierenden ersten „Leuphana-Semester“ haben dies ebenso erkannt wie die Universität Witten/Herdecke, bei der das problemorientierte Lernen Kern der „Wittener Didaktik“ ist. Der Schritt des problemorientierten Lernens zu konkreten Projekten vor Ort, in denen Studierende dann zusammen mit Bürgern an sie bewegenden Forschungsfragen arbeiten, ist nur ein kurzer.
Mit Bürgerwissenschaft die Potenziale der Region erschließen
Für Hochschulen ist damit eine besondere Chance verbunden. Hochschulen erfüllen heute mehr denn je auch eine wichtige Entwicklungsfunktion für Städte und Regionen, in denen sie sich befinden. Diese Funktion wurde lange Zeit insbesondere auf den unmittelbaren ökonomischen und technologischen Transfer bezogen. Daher verfügen heute die meisten Hochschulen über Technologietransferstellen oder Gründerzentren. Für eine ökonomisch, sozial und ökologisch ausgewogene Entwicklung bedarf es breiter ausgerichteter Impulse. Bürgerwissenschaft und Hochschule können hier ganz neue Symbiosen eingehen. Zwei Beispiele:
» So arbeitet die Universität Oldenburg in mehreren Projekten (vgl. zum Überblick Pfriem/Raabe/Spiller 2006) seit Jahren eng mit Akteuren einer ökologischen Ernährungswirtschaft in Ostfriesland zusammen. Das Wissen der regionalen Landwirte und Akteure vor Ort treibt mit den Zugängen der Oldenburger Wissenschaftler eine nachhaltige regionale Ernährungswende an.
» Die Bergische Universität Wuppertal hat zusammen mit dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie im Jahr 2013 das Projekt „Transformationslabor Wuppertal“ ins Leben gerufen. Wissenschaftler der Universität und des Institutes werden in den kommenden Jahren eng mit sozialen Bewegungen, Akteuren in der Stadtverwaltung und Unternehmen an Perspektiven für einen breit verstandenen „Wohlstandswandel“ in Wuppertal arbeiten. Dabei soll die Stadt auch zu einem großen urbanen Citizen Science-Labor werden.
Methodenvermittlung und Citizen Science
Auch Bürgerwissenschaftler benötigen Methodenwissen. In den in der Regel naturwissenschaftlichen „Citizen Science light“-Projekten erfolgt die Vermittlung durch die aktive Einbindung von Bürgern in bestehende wissenschaftliche Projekte.
In Hochschulen ist es möglich, den Methodentransfer weit über naturwissenschaftliche Beobachtungsmethoden auszuweiten. Die Vermittlung von Methoden der empirischen Sozialforschung, von ethnographischen Feldzugängen, von ökonomischen Modellen – all das lässt sich in der gemeinsamen Bearbeitung von Citizen Science-Fragestellungen entwickeln. Es eröffnet auch Perspektiven einer erweiterten Form von „offener Hochschule“, in der Bürgerwissenschaftler Angebote zum Methodenerwerb wahrnehmen können.
Hochschulen erleichtern solche Kooperationsprojekte neue Formen der inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit zwischen ihren Fächern (Wechsler 2014). Das Projekt „2042“ (Bergmann u.a. 2014) der interdisziplinären Fakultät für Nachhaltigkeit an der Leuphana Universität in Lüneburg ist dafür ein Beispiel, ebenso wie die Zusammenarbeit von Elektrotechnikern, Industriedesignerinnen, Soziologen und Gegenwartsphilosophen im interdisziplinären „Zentrum für Transformationsforschung“ (TransZent) an der Universität Wuppertal, in dem die Arbeit im Transformationslabor Wuppertal zusammenlaufen.
Wissenschaftsläden und andere Plattformen der Wissensvermittlung
Neben der unmittelbaren Verbindung zwischen Hochschule und Bürgerwissenschaft ist es wichtig, Brückeninstitutionen für die Kooperation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu schaffen – ähnlich wie dies mit den Transferstellen für die Kooperation zwischen Hochschule und Wirtschaft fast flächendeckend geschehen ist. Sogenannte Wissenschaftsläden haben sich dafür als Modell insbesondere in den Niederlanden, aber auch an einzelnen deutschen Standorten wie in Bonn bewährt. Bürgerhochschulen sollten sich für das Entstehen solcher neuen Formen von „Transferstellen“ einsetzen.
Neben dem einzelnen Bürger sind zivilgesellschaftliche Organisationen wichtige Orte für Bürgerwissenschaft – von Umwelt- und Sozialverbänden bis hin zu Kirchen und Bürgervereinen. Ein besonders prominentes Beispiel sind die 20 wissenschaftlichen Arbeitskreise des BUND, des größten deutschen Umweltverbandes. In diesen Arbeitskreisen (www.bund.net/ueber_uns/arbeitskreise/) arbeiten Fachwissenschaftler mit erfahrenen BUND-Aktiven an Fragen des Boden- und Naturschutzes, der Energie- und Verkehrspolitik bis hin zu neuen Wohlstandsmodellen. Sie sind ein eindrucksvolles Beispiel für eine transdisziplinäre Bürgerwissenschaft innerhalb von Verbänden.
Hochschulen sollten dieses Potenzial durch einen institutionalisierten Austausch mit der organisierten Zivilgesellschaft stärker nutzen – sowohl vor Ort als auch überregional. Hier lassen sich gemeinsame Projekte oder geeignete Formen des Methodentransfers vereinbaren. Die gezielte Aufnahme von Vertretern organisierter Zivilgesellschaft in den Hochschulrat einer Hochschule kann die Kooperation und das Bewusstsein für die Möglichkeiten der Zusammenarbeit weiter stärken.
Fazit
Die Begeisterung und der Rückenwind, den die Idee einer Bürgerwissenschaft aktuell erfährt, ist auch eine Chance für die Weiterentwicklung von Hochschulen. Es gibt vielfältige Ansatzpunkte für die Verbindung von starker Bürgerwissenschaft und Hochschulen. Hochschulen sollten diese Gelegenheit wahrnehmen und vermehrt zu Bürgerhochschulen werden.
Kontakt
Prof. Dr. Uwe Schneidewind
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
Döppersberg 19
D-42103 Wuppertal
Tel.: +49-202-2492-100
Fax: +49-202-2492-108
E-Mail.: Uwe.Schneidewind@wupperinst.org
Literatur
Bergmann, M. u.a., „Germany – Europe – World 2042: A Transformative Longitudinal Study“, in: GAIA 23/2 (2014), S. 132 –134.
Finke, P., Citizen-Science. Das unterschätzte Wissen der Laien. Oekom-Verlag, München 2014.
Pfriem, R., Raabe, T., Spiller, A. (Hrsg.), OSSENA. Das Unternehmen nachhaltige Unternehmenskultur, Metropolis,
Marburg 2006.
Schneidewind, U., „Plädoyer für eine Bürgeruniversität“ in: DUZ Magazin 8 (2013), S. 30–31.
Schneidewind, U., Singer-Brodowski, M., Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem, 2. Aufl. Metropolis, Marburg 2014.
Wechsler, D., „Crowdsourcing as a method of transdisciplinary research—Tapping the full potential of participants“,
in: Futures 2014 (im Erscheinen; http://dx.doi.org/10.1016/j.futures.2014.02.005).
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