Spielerisch Daten erheben

Forschung mal anders – und zwar spielerisch per App. „Sea Hero Quest“ macht es möglich.

Dahinter verbirgt sich ein mobiles App-Spiel, mit dem Wissenschaftler im großen Umfang Daten gewinnen, um so Demenz besser erforschen zu können. Es ist Nacht, die Sicht ist schlecht und das kleine Schiff schaukelt in den Wellen. Wo ist denn jetzt die nächste Boje, die man als Spieler ansteuern muss? Hinten links in der kleinen Bucht? Oder doch auf der anderen Seite der Insel? Nachdem die Spieler einen Blick auf eine Karte werfen durften, müssen sie im nächsten Schritt in dem Labyrinth aus kleinen Buchten und Inseln möglichst schnell den richtigen Kurs finden. Da ist Orientierungssinn gefragt – und um genau den geht es in diesem Spiel.

Sea Hero Quest ist jedoch nicht nur einfach ein weiteres App-Spiel von vielen. Das Spiel haben Wissenschaftler entwickelt, um die Grundlagenforschung für Demenz einen großen Schritt nach vorne zu bringen. So ist das Ziel des Projekts, einen Teil der drei Milliarden Stunden, die Menschen weltweit jede Woche mit Onlinespielen verbringen, für die Forschung zu nutzen. Die Idee scheint aufzugehen: Bereits wenige Wochen nachdem die Deutsche Telekom Sea Hero Quest vorgestellt hat, haben weltweit mehr als zwei Millionen Menschen die App heruntergeladen. Hinter dem bisher einmaligen Projekt „Game for Good“ verbirgt sich jedoch nicht nur die Telekom – das Bonner Unternehmen hat das mobile Spiel gemeinsam mit dem University College London, der University of East Anglia, der gemeinnützigen Organisation Alzheimer’s Research UK sowie dem Spieleentwickler Glitchers entwickelt. Für ihre Initiative erhielt die Telekom beim diesjährigen Cannes Lions International Festival of Creativity neun Awards – einen goldenen, fünf silberne und drei bronzene Löwen.


Spannende Entdeckerfahrten auf hoher See
Die Auszeichnung zeigt auch, dass sich viele Menschen für die Idee der spielerischen Datenerhebung begeistern. Das Spiel richtet sich an Menschen jeden Alters, daher ist die Handlung auch einfach und emotional: Ein Seemann erlebt mit seinem kleinen Sohn viele Abenteuer auf dem Meer. Mit zunehmendem Alter verblassen jedoch seine Erinnerungen an die Entdeckungsfahrten, die seltenen Meeresungetüme und wo sie zu finden sind. Der Sohn möchte dieses Wissen retten und fährt deshalb selbst die alten Routen des Vaters noch einmal ab. Genau das ist die Aufgabe des Spielers: Er löst unterschiedliche Aufgaben, während er durch verschiedene Landschaften steuert.

„Beispielsweise sind die Spieler aufgefordert, eine Leuchtrakete zurück zu dem Punkt zu schicken, an dem sie gestartet sind. Wissenschaftler können so feststellen, wie gut Spieler ihren Startpunkt zurückverfolgen können“, sagt Professor Stephan A. Brandt, stellvertretender Direktor an der Klinik für Neurologie der Charité in Berlin, der die Telekom bei dem Projekt wissenschaftlich berät. „Das Besondere an dem Spielkonzept ist, dass man durch die unterhaltsamen Aufgaben systematisch dazu inspiriert wird, verschiedene Arten der räumlichen Orientierung anzuwenden und bestimmte Transferleistungen zu machen, die den Charakter einer neuropsychologischen Untersuchung haben“, erklärt Professor Brandt. Steuert der Spieler sein Boot durch ein Labyrinth, erhalten die Wissenschaftler Daten darüber, wie das Gehirn einen Menschen durch einen dreidimensionalen Raum lenkt und welche Entscheidungen es dabei trifft. Dafür wird alle 0,5 Sekunden der Weg des Spielers über ein definiertes räumliches Raster erfasst.

Zwei Minuten spielen statt 50 Jahre forschen
„Bis heute haben alle Spieler zusammen Navigationsdaten gesammelt, deren Erhebung unter Laborbedingungen mehr als 4.500 Jahre benötigt hätte“, erklärt Prof. Michael Hornberger, Professor für Demenzforschung an der Universität von East Anglia. Die Projektteilnehmer des Spiels schreiben der traditionellen Forschungsmethode eine Orientierungsentscheidung (= ein Datenpunkt) pro Minute zu. Das Konzept des Onlinespiels hingegen beinhaltet Methoden des maschinellen Lernens, um jedes Manöver des Spielers zu interpretieren und zu analysieren und sammelt so 150 Datenpunkte pro Minute. Hornbergers Fazit: „Spielen 100.000 Menschen das Spiel nur zwei Minuten lang, werden so viele Daten gewonnen wie in 50 Jahren herkömmlicher Forschungsarbeit. Damit die Forscher die gewonnenen Daten möglichst gut nutzen können, ist es wichtig, dass möglichst viele Spieler Angaben zu Alter, Geschlecht und Herkunftsland machen.“

Gebraucht werden diese Daten dringend: Kaum eine Krankheit wächst so schnell und ist so wenig erforscht wie Demenz. Alle 3,2 Sekunden wird bei einem Menschen die Krankheit diagnostiziert. Die Einschränkung der räumlichen Orientierung ist bei vielen Demenzkranken ein frühes und alltagsrelevantes Symptom. Forschern in aller Welt liegen zwar Daten von Erkrankten vor, aber kaum Vergleichsdaten von gesunden Menschen. Sea Hero Quest schafft hier Abhilfe: Mit dem Spiel erhalten Wissenschaftler erstmals anonyme Daten über das Navigationsverhalten und die räumliche Orientierung von Millionen Menschen unterschiedlichen Alters über den gesamten Globus.

Unbemerkt zur Volkskrankheit
Demenz kann jeden treffen – unabhängig von Alter, erblicher Veranlagung, Lebensstil oder sozialem Status. Das Schlimme: Demenz schränkt vor allem das Erinnerungsvermögen ein, führt zu Desorientierung und Isolation. Schätzungen zufolge leben weltweit knapp 50 Millionen Menschen mit einer Form von Demenz, wie zum Beispiel Alzheimer. Nach Angaben des „Global Alzheimer’s Report 2015“ werden im Jahr 2050 rund 135 Millionen Menschen von Demenz betroffen sein, davon nach Schätzungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft rund drei Millionen in Deutschland: Damit entwickelt sich Demenz langsam aber sicher zu einer Volkskrankheit und stellt eine der größten medizinischen Herausforderungen unserer Gesellschaft dar.

Die Forscher tappen darüber hinaus bei vielen Fragen noch im Dunkeln: Etwa worin unterscheidet sich die Krankheit von anderen Alterungsprozessen? Wirksame Therapien, die Demenz aufhalten oder heilen, gibt es bisher nicht. „Sea Hero Quest zeigt, welche enormen Chancen und Möglichkeiten die Digitalisierung des Gesundheitswesens bietet. Nämlich ganz neue Ansätze, Daten für die Forschung zu erheben und Therapien so wesentlich besser und schneller zu entwickeln“, sagt Dr. Axel Wehmeier, Geschäftsführer der Telekom Healthcare Solutions. Zum Vergleich: Die bisher größte Studie zur räumlichen Orientierung umfasste 600 Teilnehmer – Sea Hero Quest wurde wenige Wochen nach Veröffentlichung bereits über 1,5 Millionen Mal heruntergeladen, so Wehmeier. Und wer weiß, vielleicht ist Sea Hero Quest der Auftakt für eine ganz neue Form der Forschung, bei der Wissenschaftler Daten mithilfe von mobilen Spielen erheben.


Jeder kann seinen Beitrag zur Demenzforschung leisten! Das Spiel gibt es kostenlos in den Appstores von Apple und Google. Die anonymen Daten werden jedoch erst bei Spielern ab 18 Jahren ausgewertet und nur dann, wenn der Spieler seine Daten für die Forschung freigibt. Die Angaben werden anonym in einem Rechenzentrum der Telekom in Deutschland gespeichert. Die Daten gehören der Telekom, auswerten darf sie das University College London. Weitere Wissenschaftler können einen Zugang beantragen.



Interview

Die Digitalisierung bietet der Medizin große Chancen

Drei Fragen an Dr. Axel Wehmeier, Geschäftsführer Telekom Healthcare Solutions

 

Herr Dr. Wehmeier, die Telekom unterstützt mit einem App-Spiel die Demenz-Forschung. Welche Möglichkeiten bieten neue Technologien die Gesundheit zu verbessern?

Da gibt es schon ziemlich viele: „Wearables“ warnen vor Herzinfarkt, Handykameras erkennen Hautkrebs oder Apps sammeln Vitalwerte wie Blutdruck, Gewicht oder Blutzuckerspiegel. Erste Nutzer bringen solche Daten inzwischen zu ihrem Arzttermin mit. Nach Umfragen nutzen bereits rund ein Drittel der Bundesbürger Fitness-Tracker und messen damit ihre sportlichen Leistungen oder medizinische Körperwerte. Das zeigt, die Akzeptanz in der Bevölkerung ist bereits vorhanden. Viele Konzepte für weitere Lösungen schlummern noch in den Schubladen der Entwickler.

Kritiker befürchten bei der Digitalisierung einen mangelnden Schutz von Gesundheitsdaten.
Die Digitalisierung bietet große Chancen, die medizinische Versorgung zu verbessern. Dokumentationen auf Papier, wie manche sie fordern, sind für die Gesundheitsbranche keine Lösung. Sie sind das Problem. Zum einen sorgen sie für Ineffizienz und explodierende Kosten, zum anderen können Wissenschaftler die Daten nicht aufbereiten. Wer kann schon sagen, welche medizinischen Erkenntnisse heute ungenutzt in den Archiven schlummern, weil wir den großen Schatz an Behandlungsdaten nicht digital zusammenführen und analysieren? Das Beispiel der Spiele-App Sea Hero Quest zeigt, mit welchen modernen und wirkungsvollen Methoden wir die Demenz-Forschung voranbringen, damit diese Krankheit eines Tages heilbar ist.

Was antworten Sie den Kritikern in Sachen Datenschutz?
Selbstverständlich müssen wir für die Sicherheit medizinischer Daten sorgen – und das tun wir auch mit unseren Sicherheitslösungen und Rechenzentren entsprechend den Vorgaben des deutschen Datenschutzgesetzes. Aber wir dürfen die Chancen der Digitalisierung nicht verschenken, denn sie birgt große medizinische Fortschritte. Ein Beispiel: In Deutschland sterben jedes Jahr mehr Menschen an unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen als im Straßenverkehr! Würde man Ärzte verpflichten, beim Verschreiben von Medikamenten mit einem Onlinecheck die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten zu überprüfen, könnten viele Leben gerettet werden.

Frank Griesel/Palmer Hargreaves

Bild: Deutsche Telekom

 

 

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